RZ-Kommentar

Kinder ohne Vorleser sind mehrfach benachteiligt

Von der neuen Vorlesestudie geht ein ermutigendes Signal für die Bildung aus. In Familien in Deutschland wird immer häufiger vorgelesen. Und wichtiger noch: Auch Eltern, die in Studien gern als „bildungsfern“ bezeichnet werden, greifen allabendlich deutlich häufiger zum Buch, um dem Nachwuchs eine Geschichte vorzulesen, als noch vor einigen Jahren.

Rena Lehmann kommentiert.
 

Rena Lehmann zur Vorlese-Studie

Damit allerdings kann sich noch niemand zufriedengeben. Denn trotzdem bleibt auch eine andere Zahl wahr: In jeder dritten Familie in Deutschland wird überhaupt nie vorgelesen. Wem selbst als Kind von Vater oder Mutter vorgelesen wurde, der wird wissen, wie prägend diese ersten Erfahrungen mit Büchern und Geschichten gewesen sind. Oft überdauern die Erinnerungen an die Lieblingsgeschichten der Kindheit ein ganzes Leben.

Sie sind die Inititalzündung für das spätere Leseverhalten als Kind, als Jugendlicher und schließlich auch noch als Erwachsener. Das Vorlesen eröffnet dem Kind die ganze Welt der Literatur und beflügelt seinen Erkenntnisdrang, den Willen, selbst lesen zu können. Nicht zuletzt lässt das Vorlesen eine innige Bindung zwischen Eltern und Kind entstehen. Wer in seiner Kindheit konsequent darauf verzichten musste, ist gegenüber seinen Altersgenossen also gleich mehrfach im Nachteil.

Keinem Kind sollte gänzlich diese wertvolle Erfahrung versagt bleiben. Die Erfahrungen der Stiftung Lesen und ihrer Partner, die sich aktiv um Eltern als Vorleser bemühen, zielen in die richtige Richtung. Wenn Eltern beim Kinderarzt, in der Kita und der Schule dazu ermuntert werden können, dem Nachwuchs vorzulesen, sollte diese Chance auch ergriffen werden.

Allerdings darf auch die Politik nicht untätig sein. Das Ergebnis der Vorlesestudie bestätigt nämlich auch eine inzwischen zur Gewissheit gewordene Vermutung über das deutsche Bildungssystem: Während die von zu Hause aus gut geförderten Kinder immer besser werden, fällt ein großer Anteil von Bildungsverlierern weiter zurück. Kita, Schule und Co. sind heute noch nicht in der Lage, diese Nachteile auszugleichen, auch nicht beim Vorlesen.



Studie: Vorlesen macht schlau

In einem Drittel der Familien in Deutschland wachsen Kinder ohne allabendliche Gute-Nacht- Geschichte auf, die Papa oder Mama vorlesen. Die Stiftung Lesen, die das Vorleseverhalten der Eltern seit 2007 jährlich untersucht, kommt zu dem Schluss, dass noch immer zu wenige von ihnen sich die Zeit nehmen, mit ihren Kindern gemeinsam zu schmökern.

 

Von Rena Lehmann

Ihre aktuelle Studie zeigt jedoch auch positive Trends: Eltern aus eher bildungsfernen Schichten greifen heute deutlich häufiger zum Buch oder PC und lesen dem Nachwuchs vor als noch vor sechs Jahren. Und der Anteil der vorlesenden Väter hat demnach immerhin leicht zugenommen. Den guten Einfluss auf die Bildungschancen von Kindern werden Wissenschaftler wie Pädagogen seit Jahren nicht müde zu betonen.

„Eltern, die vorlesen, investieren nachhaltig in die Bildungschancen ihrer Kinder“, wirbt deshalb die Mainzer Stiftung Lesen. Deren Medienforscherin Simone C. Ehmig sagt: „Jugendliche, denen vorgelesen wurde, haben bessere Noten in der Schule. Besonders dann, wenn ihnen täglich vorgelesen wurde.“ Immerhin 70 Prozent der Eltern lesen ihren Kindern täglich oder zumindest mehrmals in der Woche etwas vor.

„Vorlesen ist ganz wichtig für die Entwicklung des Wortschatzes, der Fantasie und des Wissens. Kinder können ja – wie Erwachsene auch – nicht zu allen Bereichen des Lebens unmittelbar einen Zugang haben“, erklärt Ehmig. Beim Vergleich des Vorlese- Verhaltens der Eltern tut sich eine Schere auf, wie man sie aus anderen Bildungsstudien in Deutschland kennt: Während unter gebildeten Eltern, deren Aufmerksamkeit stark um den Bildungserfolg ihrer Kinder kreist, 49 Prozent ihren Kindern mehrmals in der Woche vorlesen, sind es unter den Eltern mit niedriger Bildung nur 34 Prozent.

21 Prozent der Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss lesen ihren Kindern täglich vor, unter den Eltern mit hoher Bildung tun dies 28 Prozent. Der Abstand ist zwar noch erheblich, die eher bildungsfernen Eltern konnten aber aufholen. Insgesamt wird heute mehr vorgelesen als im Jahr 2007: Während damals nur 82 Prozent aller Eltern mit Kindern im wichtigen Vorschulalter zwischen drei und fünf Jahren ihren Kindern mindestens einmal in der Woche etwas vorgelesen haben, sind es 2018 schon 88 Prozent der Eltern.

Unter den Eltern mit niedrigem Bildungsabschluss ist der Unterschied allerdings viel deutlicher. 67 Prozent von ihnen haben 2007 regelmäßig für ihre Kinder zum Buch gegriffen. Heute sind es mit 81 Prozent viel mehr Eltern, die sich für regelmäßiges Vorlesen entscheiden. Bei der Stiftung Lesen, die zusammen mit der Wochenzeitung „Die Zeit“ und der Deutschen Bahn den jährlichen Vorlesetag veranstaltet (in diesem Jahr findet er am 15. November statt), ist man davon überzeugt, dass aktives Werben fürs Vorlesen die Eltern beeinflusst hat.

Bei Kinderärzten und in Schulen und Kitas etwa kommen bundesweit sogenannte Starter-Sets mit Anleitungen und Vorlesebüchern zum Einsatz. Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen, geht außerdem davon aus, dass die Bedeutung des Lesens inzwischen stärker anerkannt ist. Auch in der Politik gebe es eine gewachsene Sensibilität für die Leseförderung.

Zur Wahrheit der Studie gehört allerdings auch, dass 30 Prozent der Kinder gegenüber ihren Altersgenossen deutliche Nachteile erfahren, weil ihnen gar nicht vorgelesen wird. Ob ein Kind später selbst gern liest, hängt wesentlich davon ab, ob es in seinem Zuhause auf lesende Vorbilder trifft. Nur 46 Prozent der Eltern lesen selbst täglich oder mehrmals die Woche ein Buch, 49 Prozent studieren regelmäßig eine Tageszeitung, 61 Prozent lesen Zeitschriften.

Der Anteil der Eltern, die in den vergangenen zwölf Monaten mindestens einmal eine öffentliche Bibliothek besucht haben, liegt bei 33 Prozent. Mit Sorge beobachten die Leseforscher, dass Väter nach wie vor deutlich seltener zum Buch greifen, um ihrem Nachwuchs eine Geschichte vorzulesen. Während 29 Prozent der Mütter dies täglich tun, sind es bei den Vätern nur 9 Prozent.

Etwas geringer fällt der Unterschied im wöchentlichen Vergleich aus: Immerhin 36 Prozent der Väter lesen mehrmals in der Woche vor, die Mütter sind aber auch hier mit 38 Prozent stärker vertreten. Selbst die berufstätigen Mütter schaffen es mit 19 Prozent noch deutlich häufiger, ihren Kindern täglich vorzulesen, als die Väter mit 9 Prozent. Bei der Stiftung Lesen sieht man dafür nach wie vor eine traditionelle Rollenaufteilung als Ursache.

Mütter kümmerten sich immer noch stärker um die Erziehung der Kinder. Immerhin haben sich die Väter aber schon etwas gebessert. Während 2007 nur 69 Prozent von ihnen mindestens einmal die Woche vorlasen, sind es 2013 schon 82 Prozent. Insgesamt hat das Lesen in den Familien einen höheren Stellenwert. Die Forscher hoffen auch auf neue Medien, damit das so bleibt. So hat etwa der Tablet-PC bei bildungsfernen Familien eher dazu geführt, dass Eltern ihren Kindern häufiger vorlesen.


 

Dieser Artikel wurde mir freundlicherweise von der Rhein-Zeitung 

www.rhein-zeitung.de zur Verfügung gestellt.